
Die IBM-CEO-Studie 2025 stellt fünf zentrale Mindshifts vor, die nach Einschätzung von Unternehmensleitungen notwendig sind, um unter den Bedingungen globaler Unsicherheit wettbewerbsfähig zu bleiben. Diese Verschiebungen betreffen nicht nur technologische Entscheidungen, sondern stellen grundlegende Fragen an das Selbstverständnis des Personalwesens. HR Professionals sind zunehmend gefordert, KI nicht nur operativ einzuführen, sondern deren strategische, kulturelle und ethische Implikationen aktiv mitzugestalten. Im Folgenden werden die fünf Mindshifts kurz diskutiert – nicht entlang eines statischen Pro-und-Contra-Schemas, sondern anhand zugespitzter Leitfragen, die unterschiedliche Lesarten ermöglichen – und zur Reflexion anregen sollen.
1. Mut zur Transformation – oder riskantes Übersteuern?
Leitfrage: Führt die Forderung nach mehr Risikobereitschaft im Personalbereich zu echter Innovationskraft – oder unterminiert sie psychologische Sicherheit?
Viele CEOs betonen, dass es mutiger Entscheidungen bedarf, um disruptive Technologien wie KI zu integrieren. Laut Studie sagen 64 % der CEOs, sie müssten größere Risiken eingehen als ihre Wettbewerber, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Doch wie lässt sich Risikobereitschaft im HR konkret umsetzen, ohne die Stabilität zu gefährden? Ohne begleitende Lernräume und belastbare Feedbackkulturen besteht die Gefahr, dass „Mut“ zum Selbstzweck wird und Mitarbeitende überfordert oder demotiviert werden. HR muss hier als Gestalter von Adaptionsfähigkeit auftreten – und nicht als Erfüllungsgehilfe einer risikogetriebenen Transformationsrhetorik. Auch Führungskräfte sind gefragt: Sie müssen Risikobereitschaft vorleben, ohne dabei die psychologische Sicherheit ihrer Teams zu gefährden.
Ein Beispiel: Ein Unternehmen experimentiert mit KI-basiertem Job-Rotation-Management, um Mitarbeitende regelmäßig neu einzusetzen. Die Intention ist Innovationsförderung – doch viele Mitarbeitende erleben den Wechsel als Kontrollverlust. Solche Spannungen müssen HR-seitig frühzeitig erkannt und moderiert werden.
2. Talent-Borrowing: Flexibles Kompetenzmodell oder kultureller Substanzverlust?
Leitfrage: Ist der Trend zur Einbindung externer Talente ein agiles Innovationsmodell – oder ein schleichender Verlust gemeinsamer Orientierung?
Die Studie verweist auf das zunehmende Bedürfnis, Fachkompetenz kurzfristig „einzukaufen“, etwa über Freelancer, Beratungen oder Partnerschaften. Zwei Drittel der CEOs (67 %) sehen die Fähigkeit, zur richtigen Zeit über die richtigen Kompetenzen zu verfügen, als entscheidend für die Differenzierung gegenüber Wettbewerbern. Für HR ergeben sich daraus neue Aufgaben in der Steuerung hybrider Belegschaften. Besonders kritisch ist die Frage, wie interne Kompetenzen aufgebaut und gehalten werden können: Organisationen, die sich stark auf externe Talente verlassen, riskieren laut IBM-Studie eine Vernachlässigung interner Qualifizierung. Deshalb sollte das Talent-Borrowing strategisch mit gezielten Schulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen kombiniert werden.
Doch wie gelingt kulturelle Integration, wenn Bindung, Loyalität und geteilte Werte schwächer werden? Mitarbeitende könnten sich zunehmend als „austauschbare Ressourcen“ erleben. Ein Beispiel sind Projektteams, die aus internen und externen Kräften bestehen, ohne klare Verantwortungsstrukturen – die Folge sind Spannungen, ineffiziente Übergaben und Identitätsverlust im Team.
3. Datenbasierte HR-Entscheidungen: Transparenzgewinn oder ethische Grauzone?
Leitfrage: Ermöglicht KI datenbasierte Fairness – oder erzeugt sie neue Formen algorithmischer Diskriminierung?
KI-gestützte Tools versprechen bessere Entscheidungsgrundlagen in Recruiting, Talententwicklung und Nachfolgeplanung. Laut IBM-Studie sehen 72 % der CEOs ihre proprietären Daten als Schlüsselfaktor für den Wertbeitrag generativer KI. Doch je mehr Entscheidungsprozesse automatisiert werden, desto dringlicher stellt sich die Frage nach der Verantwortung für diese Entscheidungen.
Ein konkreter Fall: Ein KI-System stuft systematisch Bewerber:innen mit Lücken im Lebenslauf schlechter ein – ein Bias, der z. B. Personen mit Care-Verantwortung benachteiligt. HR muss diese Effekte erkennen, reflektieren und ggf. gegensteuern – etwa durch menschliche Review-Prozesse. Führungskräfte spielen dabei eine doppelte Rolle: Sie sind sowohl Anwender:innen als auch Kommunikator:innen algorithmischer Entscheidungen – und müssen diese für Mitarbeitende nachvollziehbar machen.
4. Innovationsrendite durch KI – Was ist „Wert“ im HR?
Leitfrage: Lässt sich der Beitrag von KI im Personalbereich valide messen – oder verengen bestehende KPIs den Blick auf das Wesentliche?
Die Studie fordert eine stärkere ROI-Orientierung bei KI-Investitionen. Doch sie zeigt auch: Nur 25 % der bisherigen KI-Projekte haben laut den befragten CEOs den erwarteten ROI erbracht. Gleichzeitig geben 52 % an, dass ihre Investitionen bereits Wirkung über reine Kostenersparnis hinaus entfalten – etwa durch gesteigerte Innovationsfähigkeit oder bessere Entscheidungsqualität.
Für HR bedeutet das, neue Bewertungsmaßstäbe zu entwickeln. Ein Praxisbeispiel: Statt allein die Time-to-Hire zu messen, könnte auch erfasst werden, wie gut neue Mitarbeitende nach sechs Monaten integriert sind – gemessen an Feedback, Bindungsindikatoren oder Engagementwerten.
5. HR zwischen Technik und Mensch: Vermittler oder Verwalter?
Leitfrage: Wie kann HR seiner Verantwortung gerecht werden, wenn KI den zwischenmenschlichen Raum strukturell verändert?
Die Integration von KI verändert nicht nur Prozesse, sondern auch Beziehungen. Automatisierte Kommunikation, KI-unterstütztes Feedback oder Chatbots im Onboarding-Prozess stellen Fragen an die Qualität der Interaktion. In diesem Kontext gewinnt auch Vertrauen als Ressource strategischer Führung an Bedeutung: 65 % der CEOs sagen, dass Kundenvertrauen künftig einen größeren Einfluss auf den Unternehmenserfolg haben wird als einzelne Produkt- oder Servicemerkmale.
Für HR ergibt sich daraus auch die Frage: Wie verändert KI die Führungsrolle? Wenn Rückmeldungen zunehmend von Systemen gegeben werden, braucht es Führungskräfte, die Kontext geben, Verantwortung übernehmen und emotionale Resonanz bieten – insbesondere dann, wenn Systeme keine adäquate Antwort mehr liefern.
Fazit
Reflexionsrahmen für HR Professionals
Die fünf Mindshifts der IBM-Studie markieren zentrale Spannungsfelder, mit denen sich HR-Professionals künftig auseinandersetzen müssen. Es geht nicht nur darum, KI „einzuführen“, sondern um eine bewusste Aushandlung dessen, was Organisation, Führung und Zusammenarbeit künftig bedeuten sollen. Wer KI im HR als strategisches Gestaltungsfeld versteht, braucht Mut zur Reflexion, Klarheit über Ziele und die Bereitschaft, neue Verantwortung zu übernehmen – für Technologien ebenso wie für Menschen.
Fünf Impulsfragen für die strategische HR-Reflexion:
- Wie viel Risikobereitschaft kann HR fördern, ohne organisationale Stabilität oder psychologische Sicherheit zu gefährden?
- Wie lässt sich der Einsatz externer Talente gestalten, ohne dass Teams an Kohärenz, Identität oder Vertrauen verlieren?
- Welche internen Kontrollmechanismen – technischer wie menschlicher Art – garantieren Fairness in datenbasierten HR-Entscheidungen?
- Welche qualitativen, langfristig ausgerichteten Indikatoren braucht es, um den strategischen Wert von KI im Personalwesen zu erfassen?
- Wie verändert KI das Führungsverständnis – und welche Aufgaben müssen zwingend im menschlichen Ermessen verbleiben?
Welche Chancen bietet der Einsatz von KI im Personalmanagement?
Künstliche Intelligenz kann Entscheidungsprozesse im HR-Bereich objektivieren, repetitive Aufgaben automatisieren und die Innovationsfähigkeit steigern. Besonders im Recruiting und der Talententwicklung lassen sich durch datenbasierte Analysen neue Potenziale erschließen.
Welche Risiken sind mit KI-gestützten HR-Entscheidungen verbunden?
Zu den Risiken zählen algorithmische Verzerrungen (Bias), mangelnde Transparenz sowie mögliche negative Auswirkungen auf die psychologische Sicherheit und das Vertrauen der Mitarbeitenden in Entscheidungsprozesse.
Wie verändert KI die Rolle von HR-Führungskräften?
HR-Führungskräfte müssen nicht nur technische Kenntnisse entwickeln, sondern auch als Vermittler:innen zwischen Mensch und Maschine agieren. Sie übernehmen die Verantwortung für KI-gestützte Prozesse und müssen deren Auswirkungen aktiv gestalten und kommunizieren.
Was ist unter 'Talent-Borrowing' im HR-Kontext zu verstehen?
‚Talent-Borrowing‘ beschreibt die kurzfristige Einbindung externer Fachkräfte wie Freelancer oder Partner. Ziel ist es, flexibel auf Kompetenzbedarfe zu reagieren, was jedoch auch zu kulturellem Substanzverlust und Identitätsfragen innerhalb der Teams führen kann.
Wie lässt sich Fairness bei datenbasierten HR-Entscheidungen gewährleisten?
Fairness kann durch transparente Algorithmen, menschliche Kontrollinstanzen und kontinuierliche Evaluation der Systeme sichergestellt werden. Eine Kombination aus technischer und ethischer Überprüfung ist notwendig, um Diskriminierung zu vermeiden.
Wie kann der Erfolg von KI-Projekten im HR validiert werden?
Der Erfolg sollte nicht nur über klassische KPIs wie Time-to-Hire oder Kosteneinsparung gemessen werden, sondern auch über qualitative Indikatoren wie Integrationserfolg, Mitarbeiterbindung und Innovationsfähigkeit.
Welche Herausforderungen bringt KI für die Unternehmenskultur mit sich?
Die Einführung von KI kann zu Kontrollverlust, Unsicherheit und einem Rückgang emotionaler Bindung führen. HR muss kulturelle Integrationsprozesse begleiten und für klare Kommunikationsstrukturen sowie psychologische Sicherheit sorgen.
Wie verändert KI die Qualität zwischenmenschlicher Interaktion im HR?
Automatisierte Systeme können standardisierte Kommunikation unterstützen, ersetzen jedoch keine empathische Führung. Führungskräfte müssen weiterhin Verantwortung übernehmen, Kontext liefern und emotionale Resonanz bieten.